Über Generationen hinweg: Warum Johanns Bindungsangst mit dem Schweigen seines Großvaters begann

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Eines Tages saß Johann vor mir in der Praxis. Mitte 40,  erfolgreich, attraktiv – auf den ersten Blick verkörperte er das perfekte Leben. Doch Johann war verzweifelt. Immer wieder durchlief er in seinen Liebesbeziehungen das gleiche destruktive Muster: Sobald eine Beziehung tiefer und verbindlicher wurde, zog er sich zurück. Auch die Verbindung zu Isa, die er gerade abrupt beendet hatte, passte genau in dieses Muster. Anfangs sehr verliebt, wurde ihm die Nähe plötzlich unerträglich, und er zog einen radikalen Schlussstrich. Zurück blieben eine tief verletzte Isa und Johann, irritiert und ratlos über sein eigenes Verhalten. Warum verhielt er sich so? Diese Frage brachte ihn zu mir und führte uns zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen der transgenerationalen Weitergabe: Wie die Prägungen früherer Generationen unbewusst seine Beziehungsdynamik prägen. 

Bindungsmuster erkennen: Warum Beziehungsvermeider Liebe und Nähe als Bedrohung empfinden

Im Coaching fanden wir heraus, dass Johann ein vermeidender Beziehungstyp ist. Ein solcher Typus zeichnet sich dadurch aus, dass die Nähe zu anderen Menschen als beängstigend oder einengend empfunden wird. Vermeidende Bindungstypen entwickeln oft schon früh in ihrer Kindheit ein tiefsitzendes Muster des Rückzugs, wenn emotionale Nähe droht. Sie haben unbewusst gelernt, dass Bindung potenziell schmerzhaft oder enttäuschend sein kann. Dies führt dazu, dass sie sich – wie auch Johann – emotional distanzieren, sobald eine Beziehung tiefer und verbindlicher wird. Äußerlich scheint ihr Verhalten kühl und zurückgezogen, aber innerlich haben sie oft ein Konflikt: Das Verlangen nach Nähe trifft auf die Furcht vor Verletzbarkeit.

 

Doch Johann wollte mehr als diese „Beziehungsdiagnose“. Er wollte die Ursachen finden und  verstehen, woher sein Verhalten kommt. So begaben wir uns gemeinsam auf die Spuren seiner Familiengeschichte. Mit Hilfe von alten Fotos, Erinnerungen, Briefen und Gesprächen mit seinen noch lebenden Eltern versuchte er, mehr über seine Familiengeschichte zu erfahren. Und tatsächlich: Die Spurensuche war nicht nur spannend, sondern auch erkenntnisreich.

 

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Transgenerationales Erbe: Emotionen und Bindungsmuster werden weitergegeben

Hier kommt das Thema der transgenerationalen Weitergabe ins Spiel – die unbewusste Weitergabe von Werten, Emotionen und auch Beziehungsmustern über Generationen hinweg. Auch Johann trägt Muster in sich, die er von seinen Vorfahren übernommen hat, ohne es zu wissen. Um seine Geschichte zu verstehen, muss man wissen, was mit transgenerationaler Weitergabe gemeint ist.

 

Oft glauben wir, dass nur bewusst Erlerntes, wie Verhalten und Gewohnheiten, von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Doch noch vieles Bedeutsames darüber hinaus geschieht auf unbewusster Ebene. Emotionale Prägungen, die Art, wie Liebe und Nähe erlebt werden, sowie ungelöste Konflikte und Traumata hinterlassen Spuren, die nicht nur im Leben der direkt Betroffenen wirken, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder beeinflussen können. Wie ein unsichtbares, aber starkes Band verweben sie eine Generation mit der nächsten: Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel.

Wenn zum Beispiel ein Elternteil emotionale Nähe aus bestimmten Gründen nicht zulassen kann, spürt das Kind diese Distanz – selbst wenn nicht darüber gesprochen wird. Es übernimmt unbewusst die Botschaft: "Nähe ist gefährlich oder unerwünscht". Diese unsichtbaren Botschaften werden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Betroffenen sind sich dessen aber nicht bewusst. 

Die Macht des Schweigens - Negative Gefühle werden oft nicht ausgesprochen

In Johanns Fall reicht die transgenerationale Weitergabe bis zu seinem Großvater zurück. Johanns Opa war ein verschlossener, traumatisierter Mann, der im Zweiten Weltkrieg Schreckliches erlebt hatte. Nach dem Krieg kehrte er zwar zu seiner Familie zurück, doch emotional war er nie wirklich präsent. Wie viele Kriegsheimkehrer war er stark traumatisiert. Der Großvater hatte den Krieg überlebt, aber etwas in seiner Seele war gestorben. Er sprach nicht über seine Erlebnisse, aber die Folgen dieser traumatischen Zeit, die unausgesprochenen Gefühle, das nicht benannte Grauen hingen wie eine dunkle Wolke über der ganzen Familie. Das  Schweigen in der Familie war sehr laut und sehr bedrückend, erkannte Johann rückblickend. Seine Großmutter versuchte immer wieder, ihren Mann emotional zu erreichen, doch er blieb distanziert. Dies prägte die Atmosphäre im Haus: Emotionale Nähe war eine seltene Erfahrung, Konflikte wurden totgeschwiegen, und echte Offenheit gab es kaum.

 

Johanns Vater wuchs in diesem Umfeld auf, das durch emotionale Kälte und das Fehlen von Bindung geprägt war. Er erlebte, dass Beziehungen etwas Distanziertes und Unsicheres sind. Ohne es zu merken, übernahm er dieses Muster und wurde selbst zu einem emotional distanzierten Mann. Obwohl er sich (unbewusst) nach Liebe sehnte, wusste er nicht, wie man wirklich Nähe zulässt. Johanns Mutter spürte diese Distanz, doch auch sie konnte die emotionale Mauer ihres Mannes nie durchdringen.

Emotionale Unsicherheiten und Angst setzen sich von Generation zu Generation fort

Und so setzte sich das Muster fort: Johann, der die emotionale Distanziertheit seines Vaters gespürt hat, übernahm unbewusst dieselben Verhaltensweisen. Für ihn bedeutet Nähe, wie für seinen Vater und Großvater, Unsicherheit und mögliche Verletzung. Und so zieht er sich in seinen Beziehungen immer dann zurück, wenn sie verbindlicher und intensiver werden. Die tiefe Angst vor emotionaler Verletzbarkeit, die er von seinen Vorfahren geerbt hat, lässt ihn die Nähe, die er sich insgeheim wünscht, gleichzeitig fürchten. 

 

Johann war lange nicht bewusst, warum er so handelte. Oft glaubte er, die Partnerin sei "nicht die Richtige" oder die Beziehung sei einfach "zu anstrengend". Doch in Wahrheit wirkt in ihm ein altes, unbewusstes Muster, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Diese Weitergabe ist sehr subtil, oft versteckt. Johann hat nie direkt von seinem Vater oder Großvater gelernt, dass man in Beziehungen flüchten sollte. Es war kein aktiver Ratschlag, sondern eine stille, unausgesprochene Erfahrung, die sich in seine Psyche eingebrannt hat.

Gefühlserbschaften - Die subtilen Spuren der transgenerationalen Bindungsmuster

Die Erforschung des Bindungsverhaltens Erwachsener bestätigt, dass sich die Grundmuster der Bindung in den Bindungsstilen der eigenen Kinder oft transgenerational reproduzieren. Diese unbewussten „Gefühlserbschaften“ nehmen ihren Weg in die Psyche der Kinder. Oft sind sie nicht leicht zu erkennen, weil sie tief unter der Oberfläche wirken. Niemand spricht direkt darüber, dass Nähe gefährlich ist oder Beziehungen schmerzhaft sein können. Doch Kinder spüren die unausgesprochenen Spannungen zwischen ihren Eltern, erleben die emotionalen Blockaden und übernehmen unbewusst dieselben Strategien, um sich zu schützen. So wird aus einer Generation von emotional distanzierten Menschen die nächste – bis jemand dieses Muster erkennt und durchbricht.

Selbsterkenntnis durch die Geschichte der eigenen Familie

Es war anfangs nicht leicht für Johann, sich mit der Geschichte seiner Familie auseinanderzusetzen, einen Blick in die Geschichten seiner Eltern und Großeltern zu werfen und sich – wenn auch bruchstückhaft – mit der Kindheit seines Vaters und dem Kriegstrauma seines Großvaters auseinanderzusetzen. Aber sich den Kindheitsgeschichten seiner Eltern anzunähern bedeutet auch, die eigene Geschichte besser zu verstehen. Bestimmte familiäre Gesetzmäßigkeiten und Beziehungsmuster werden so verständlicher. 

Die gute Nachricht - Bindungsmuster können durchbrochen werden

Für Johann bestand der erste Schritt darin, sich dieser subtilen Weitergabe bewusst zu werden. Indem er begreift, dass sein Verhalten nicht nur auf seinen eigenen Erfahrungen basiert, sondern Teil eines generationsübergreifenden Musters ist, kann er beginnen, Veränderungen vorzunehmen. Er kann die Vergangenheit seiner Familie natürlich nicht verändern, aber er kann lernen, dass Nähe nicht zwangsläufig gefährlich ist und dass er in einer Beziehung emotional sicher sein kann.

Die gute Nachricht an dieser Stelle: Bindungsmuster können durch neue positive Erfahrungen überschrieben und tatsächlich verändert werden. Transgenerationale Muster sind also kein unabwendbares Schicksal – sie sind Erkenntnisse, die helfen können, sich von unbewussten Prägungen zu befreien und endlich Beziehungen zu leben, die auf echter Nähe und Verbindung beruhen. 




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