Julia und Volker sind seit einigen Monaten zusammen. Nach der anfänglichen Verliebtheitsphase kommt es immer häufiger zu emotionalen Turbulenzen. Volker zieht sich zum Kummer von Julia immer häufiger zurück. Er sagt Treffen kurzfristig ab, vermeidet körperliche Nähe und lässt eine zunehmend verzweifelte Julia zurück, die die Welt nicht mehr versteht. Beide verstehen nicht, was da gerade passiert? „Eigentlich passen wir doch ganz gut zusammen“, da sind sie sich die beiden eigentlich einig. Doch Volker „bricht“ immer häufiger aus und Julia hat panische Angst ihn zu verlieren, obwohl er ihr immer wieder versichert, dass er sie liebt und die Beziehung will. Volker ist über sein ambivalentes Verhalten selbst sehr irritiert, eigentlich sehnt er sich doch nach Nähe. Was Julia und Volker beide nicht wissen: Ihre Bindungsstile und Bindungserfahrungen sind sehr unterschiedlich. Julia hat einen unsicheren Bildungsstil, Volker einen ängstlich-vermeidenden Bindungsstil. Willkommen in den Turbulenzen der Beziehungswelt!
Bindungsstile entstehen in der frühen Kindheit
Wie kommt es zu solchen Ambivalenzen, warum gelingen manche Paarbeziehungen, warum scheitern andere? Antworten finden wir häufig, wenn wir einen Blick in unsere Kindheit werfen. Unser Bindungsverhalten wird sehr früh geprägt. Zu entscheidenden Erkenntnissen kam der britische Psychoanalytiker John Bowlby. Er gilt als Pionier in der Bindungsforschung. Seine Theorie besagt, dass die Art und Weise, wie Eltern oder wichtige Bezugspersonen sich um ihre Babys und Kleinkinder kümmern, entscheidend dafür ist, was für Bindungsstile wir entwickeln.
Grundsätzlich lassen sich zwei Grundtypen von Bindungsrepräsentationen unterscheiden, die auch schon im Verhalten von Kleinkindern nachweisbar sind: Sichere und unsichere Bindung. Sichere Kleinkinder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weniger weinen, die Mutter bei der Rückkehr nach einer Abwesenheit positiv begrüßen und eher positive als negative Reaktionen zeigen, wenn sie auf den Arm genommen werden. Diese Kinder sind sicher gebunden! Unsichere Kleinkinder hingegen ziehen sich immer wieder zurück und vermeiden damit die Nähe oder klammern, indem sie in übertriebener Weise die Nähe suchen und sich somit ängstlich-ambivalent verhalten. Im letzteren Fall erleben die Kinder Angst über die Beständigkeit der Nähe, die sie von den Bezugspersonen erfahren.
Bindungsmuster wirken auf unsere Paarbeziehungen
Unsere Bindungsmuster werden tatsächlich schon sehr früh geprägt und haben einen großen Einfluss auf unsere erwachsenen Beziehungen. Konkret bedeutet das: Kinder, die sehr viel Nähe und emotionale Sicherheit von ihren Eltern bekommen haben, werden als Erwachsene tendenziell eher stabile Beziehungen führen. Dagegen haben Kinder, die Bezugspersonen hatten, die sich nicht stabil und emotional zuverlässig um sie gekümmert haben, eher Schwierigkeiten in ihren Partnerschaften. Zusammenfassend kann man sagen: Die Art, wie stabil wir Zuwendung in den ersten Lebensjahren erfahren, hat großen Einfluss auf unser späteres Bedürfnis nach Nähe und Distanz in unseren Liebesbeziehungen.
Denn auch in unseren Liebesbeziehungen geht es um sichere oder unsichere Bindung. Bindungsangst und Bindungsvermeidung sind wesentliche Faktoren, die den Erfolg oder Misserfolg einer Beziehung bestimmen. Unsere Bindungsstile sind also wichtig, wenn es ums Daten und Kennenlernen geht. Diesem inneren Kompass folgen wir (unbewusst), wenn wir mit anderen in Beziehung gehen. Wenn wir uns unserer Bindungsstile bewusst sind, können wir unsere Stärken und Schwächen in einer Beziehung besser verstehen. Unsere Bindungsstile zu verstehen, heißt zu verstehen, wie wir mit Nähe und Distanz umgehen, ob wir ruhig und zuverlässige Liebespartner sind oder eher Menschen, die ausweichend und vermeidend sind.
Welche Bindungsstile gibt es?
Der ängstliche-ambivalente Bindungsstil – Ständige Unsicherheit dominiert die Beziehung
Ein ängstlicher Bindungsstil geht meist mit einem instabilen Selbstwertgefühl und großer Unsicherheit einher. Diese Menschen haben Angst vor Ablehnung, legen viel Wert auf Anerkennung und Bestätigung. Sie haben große Angst davor, sich anderen zu öffnen, da sie fürchten verletzt oder nicht angenommen zu werden. Oft wurden diese Personen als Kinder emotional schlecht oder sehr instabil versorgt. Sie mussten sich schon als kleine Kinder sehr stark anpassen, um von ihren Eltern Liebe zu bekommen. Liebe war immer an Bedingungen geknüpft! Erwachsene mit diesem Bindungsstil suchen in Liebesbeziehungen ein hohes Maß an Intimität und Zustimmung. Sie neigen dazu, es ihren Partner recht machen zu wollen. Oft haben Menschen mit einem ängstlichen Beziehungsstil ein sehr geringes Selbstbewusstsein. Sie überhöhen ihre Liebespartner, nicht selten stellen sie sie auf einen Sockel. Wenn der Partner sich zurückzieht, fangen sie häufig an zu klammern. Hinter diesem Verhalten steht eine sehr hohe Verlustangst. Julia gehört zu den Menschen mit einem ausgeprägten ängstlichen Beziehungsstil. Sie hat ständig Angst davor, dass Volker sich abwendet. Menschen wie Julia leben oft in Partnerschaften, die sehr ungleichgewichtig sind. Sie neigen deshalb auch dazu, sich in einer Beziehung energetisch zu erschöpfen.
Der ängstlich-vermeidende Beziehungsstile – Sehnsucht nach Nähe und streben nach Distanz
Jetzt wird es etwas komplizierter: Ein ängstlich-vermeidender Bindungsstil ist eine schwierigen Mischung aus ängstlichen und vermeidenden Aspekten. Anfangs wirken Personen mit diesem Bindungsstil tatsächlich „verfügbar“. Erst später wechseln sie die Gangart, in der Regel dann, wenn die Beziehung sich festigt und verbindlicher wird. Dann beginnt auf einmal das Distanzierungsverhalten. Schwierig für die jeweiligen Partner*innen. Sie sind überrascht durch dieses veränderte Verhalten. Was ist aus der anfänglichen Nähe geworden? Spielt das jetzt auf einmal keine Rolle mehr?
Ja und nein… Menschen mit diesem Bindungsstil wünschen sich oft tatsächlich Nähe und Intimität. Aber sie haben häufig schlechte frühkindliche Erfahrungen gemacht. Sie hatten oft Eltern, die wenig präsent und emotional nicht verfügbar waren. Das Gefühl einer sicheren Beziehung haben sie nie erfahren. Typisch für ängstlich-vermeidendes Bindungsverhalten sind deshalb Distanziertheit und Misstrauen in Liebesbeziehungen. Menschen mit diesem Bindungsstil weichen vor Intimität und Nähe aus und legen Wert darauf, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Sie fühlen sich oft mit emotionaler Nähe unwohl. Oft haben sie auch ein schlechtes Selbstbild, trauen ihrer eigenen Beziehungsfähigkeit nicht und verleugnen im Extremfall sogar ihre Gefühle.
Volker verkörpert diesen Bindungsstil. Einerseits will er mit Julia zusammen sein, andererseits hat er Angst vor seinen eigenen Emotionen. Volker war tatsächlich kein Wunschkind. Die Mutter war selbstständig und der kleine Junge lief „nebenher“. Das Babykörbchen stand neben dem übervollen Schreibtisch und sehr häufig haben sich Mitarbeiterinnen der Mutter um den kleinen Volker gekümmert. Volker hat sehr feine Antennen und sehr große Angst vor Enttäuschung und Unerwünschtheit. Oft sind diese Beziehungen deshalb On-Off-Beziehungen. Sobald Menschen mit einem ängstlich-vermeidenden Beziehungsstil anfangen, eine Verbindung zu spüren, sabotieren sie sich selbst. Sie leben in einem großen Spannungsverhältnis: Einerseits haben sie eine tiefe Sehnsucht nach Bindung, gleichzeitig haben sie große Angst und lehnen sie ab. Beziehung fühlt sich für Menschen mit so einer Prägung nicht sicher an, sie haben große Vertrauensprobleme. Die Folge: Rückzug oder im Extremfall das Beziehungsaus!
Der abweisend-vermeidenden Bindungsstil – Autonomie ist alles!
Abweisende Vermeider sind anfangs gar nicht so leicht zu enttarnen. Sie wirken im ersten Moment gelassen, selbstbewusst und sehr bindungssicher. Tatsächlich ist dieser Beziehungstyp aber sehr schlecht zu binden. Als Kinder wurden sie oft emotional vernachlässigt, sie haben gelernt, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken oder gut zu verstecken. Am sichersten fühlen sie sich bei sich selbst. Oft haben diese Menschen ein sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Um sich selbst aufzuwerten, werten sie ihre Partner*innen häufig ab. Sie sehen sich selbst als autark und unverwundbar gegenüber Gefühlen, die mit einer engen Bindung an andere verbunden sind, und leugnen nicht selten, dass sie überhaupt Beziehungen brauchen.
Beziehung und Intimität bedeutet für abweisende Vermeider Verlust von Autonomie. Und davor haben sie Angst! Mit zunehmender Intimität in Liebesbeziehungen tauchen ihre Vermeidungsstrategien langsam auf. Sie haben großes Talent sich Stück für Stück zu empfehlen. Nicht ganz überraschend: Abweisend-vermeidende Beziehungstypen neigen zum Ghosten. „Catch me, if you can!“ – So könnte man das Beziehungsmuster dieser Menschen beschreiben.
Der sichere Bindungsstil – Alles wird gut!
Kurz und knapp: Ein Mensch mit einem sicheren Bindungsstil fühlt sich mit Nähe wohl und ist in der Lage, stabile Partnerschaften zu führen. Menschen mit dieser Beziehungsausprägung zeigen ein stabiles Selbstwertgefühl, strahlen Selbstbewusstsein aus und pflegen einen gesunden Umgang mit den eigenen Emotionen und Bedürfnissen. Meist sind sie in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen, in dem ihnen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit vermittelt wurde. Sie sind sicher gebunden. Ihren Partner*innen können sie genug Freiraum lassen, sie haben ein gesundes Vertrauen in sich selbst und andere. Konflikte werden nicht als bedrohlich gefunden, sondern als Möglichkeit, in einer Partnerschaft gemeinsam zu wachsen.
Das klingt zu schön, um wahr zu sein, oder? Woran hakt es? Menschen mit einem sicheren Bindungstil werden tatsächlich oft als sehr unsexy wahrgenommen. Oft werden sie in die Kategorie „Kumpel“ oder „gute Freundin“ einsortiert. Als Liebespartner werden sie oft nicht wahrgenommen. Da sie keine Spielchen spielen, wirken sie im ersten Moment oft langweilig und nicht erotisch. Es knistert einfach nicht so leicht. Dabei sind sie die idealen Partner*innen für unsichere oder vermeidende Beziehungstypen. Aufmerksames Hinschauen lohnt sich also!
Die gute Nachricht - Bindungsstile können sich ändern
Heißt das jetzt, dass Menschen, die einen ängstlichen oder vermeidenden Beziehungsstil haben, niemals in einer stabilen Partnerschaft leben können? Nein, die Forschung hat gezeigt, dass ein Drittel der Erwachsenen ihren Bindungsstil aufgrund von Bindungserfahrungen verändern können. Es kann also durchaus sein, dass ein ursprünglich vermeidender Typus aufgrund einer Partnererfahrung viel mehr Nähe zulassen kann und sicherer wird. Ein Bindungsstil ist nicht in Stein gemeißelt sondern auch eine Reaktion auf den jeweiligen Partner, bzw. die Partnerin.
Neben der ursprünglichen Bindungserfahrung des Kleinkindes spielen die aktuellen Beziehungen eine große Rolle. Außerdem gibt es natürlich im Laufe des Erwachsenwerdens eine fortschreitende intellektuelle Entwicklung. Es entsteht also die Fähigkeit, die eigenen Beziehungserfahrungen zu überdenken und neu zu bewerten. Ich kann mich fragen, welche Form der Beziehung ich möchte und anstrebe. Und: Ich kann aus Fehlern lernen.
Abschließend noch einmal ein Beispiel: Eine Person hat aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit einer früheren Bezugsperson (z.B. Vater oder Mutter) oder mit Liebespartner*innen ein inneres Beziehungsmuster entwickelt, das besagt, dass andere Menschen nicht verlässlich sind. Wenn diese Person sich nun aber mit einem Partner verbindet, der zuverlässig und treu ist, werden zu den früheren Bindungserfahrungen andere Erfahrungen gesammelt, die im Laufe der Zeit dazu führen können, dass das ursprüngliche Beziehungsmodell sich ändern. Die negative Beziehungserfahrung „unsicher“ kann ersetzt durch die positive Erfahrung „sicher“ ersetzt werden.
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